Bundesverfassungsgericht öffnet Fachgebietsgrenzen
Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 01.02.2011 – 1 BvR 2383/10 –entschieden, dass Fachärzte auch außerhalb ihrer durch die jeweiligen Weiterbildungsordnungen beschriebenen Fachgebietsgrenzen tätig sein dürfen. Im privatärztlichen Bereich ist danach eine Tätigkeit auch in anderen Fachgebieten jedenfalls bis zu einem gewissen Umfang zulässig.
In dem Streitfall ging es um einen Facharzt für Mund-Kiefer-Gesichtschirurgie, der zum einen als approbierter Arzt und Zahnarzt in seiner Praxis Operationen im Mund-, Kiefer und Gesichtsbereich und zum anderen in einer Klinik Schönheitsoperationen zur Veränderung der Brust sowie Bauch- und Oberarmstraffungen durchführte. Der Anteil der fachfremden Operationen lag im vorliegenden Fall unter fünf Prozent.
Während die zuständige Landesärztekammer sowie die Instanzgerichte einen Verstoß gegen das Berufsrecht annahmen, entschied das Bundesverfassungsgericht, dass die Festlegung auf die Fachgebietsgrenzen eine unverhältnismäßige Einschränkung der Berufsausübungsfreiheit des Arztes darstelle und damit gegen das Grundrecht auf Berufsausübungsfreiheit verstoße.
Das Hamburgische Kammergesetz für Heilberufe und die Berufsordnung sehen vor, dass ein Arzt, der eine Gebietsbezeichnung führt, grundsätzlich nur in diesem Gebiet tätig werden darf. Inhaltliche Einwände gegen die Regelung, grundsätzlich nur in dem Gebiet der Gebietsbezeichnung tätig zu werden, liegen nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts aber nicht vor.
Auch sei diese Beschränkung im Hinblick auf Gemeinwohlaspekte verfassungsgemäß, da sie dazu diene, die besonderen Kenntnisse und Fähigkeiten des Facharztes auf seinem Gebiet zu erhalten.
Die weitere Annahme der Gerichte, der Arzt verstoße unabhängig vom Umfang seiner gebietsfremden Tätigkeit gegen berufsrechtliche Regelungen, sofern er nur „systematisch“ gebietsüberschreitend tätig werde, sei jedoch mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit unvereinbar.
Die Qualität ärztlicher Tätigkeit werde durch die Approbation nach den Vorschriften der Bundesärzteordnung sichergestellt. Daher sei jeder Arzt, unabhängig vom Vorhandensein von Spezialisierungen, berechtigt, Patienten auf allen Gebieten, die von seiner Approbation umfasst sind, zu behandeln.
Das Bundesverfassungsgericht hatte bereits in dem sogenannten „Facharztbeschluss“ aus dem Jahr 1972 klargestellt, dass das Verbot der Betätigung außerhalb des Fachgebiets den verfassungsrechtlichen Anforderungen nur gerecht werde, wenn es lediglich als allgemeine Richtlinie, die Ausnahmen vorsehe, gelte, und keine zu enge Auslegung stattfinde.
Das generelle Verbot fachfremder Tätigkeit ist aber nach Einschätzung des Bundesverfassungsgerichts nicht erforderlich, um den durch die Facharztausbildung erreichten Leistungsstandard dauerhaft zu gewährleisten.
Es sei davon auszugehen, dass die Schulung der das jeweilige Facharztgebiet betreffenden Fähigkeiten bereits dadurch erreicht werde, dass die fachärztliche Tätigkeit den deutlich überwiegenden Umfang der Gesamttätigkeit ausmache. Offen bleibt die Frage, wo die Grenze zu ziehen ist. Ein Anteil von bis zu fünf Prozent fachfremder Tätigkeit wurde vom Bundesverfassungsgericht jedenfalls als zulässig eingestuft.
Keine Auswirkungen hat die Entscheidung auf den Bereich der gesetzlichen Krankenversicherungen. Die im Rahmen der vertragsärztlichen Versorgung vorgegebene Beschränkung des Arztes auf seine Fachgebietsgrenzen bleibt von der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts unberührt.
Im privatärztlichen Bereich, bei IGeL- und Selbstzahlerleistungen ist zukünftig dagegen eine Abrechnung „fachfremder“ Leistungen möglich, solange das Gebot, schwerpunktmäßig im eigenen Fachgebiet tätig zu werden, berücksichtigt wird. Jedenfalls in diesem Bereich hat das Bundesverfassungsgericht die Festlegung des Arztes auf sein Fachgebiet erheblich relativiert.
Quelle: RAin Anna Stenger, LL.M. Medizinrecht
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