Off-Label-Use: Sozialgerichte erweitern Leistungspflicht der Krankenkassen
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat mit einem wegweisenden Beschluss im Dezember 2005 entschieden, dass Patienten im Falle einer lebensbedrohlichen Erkrankung auch nicht allgemein anerkannte ärztliche Behandlungsmethoden auf Kosten ihrer Krankenkassen in Anspruch nehmen dürfen, sofern die anerkannten Behandlungsmethoden erfolglos ausgeschöpft worden sind. Dieses Urteil des BVerfG führte nunmehr dazu, dass das Bundessozialgericht (BSG) seine bisherige Rechtsprechung zum Off-Labe-Use modifizieren musste. In einer gerade veröffentlichten Entscheidung hat das BSG den Grundsatz des BVerfG auf den Bereich der Arzneimittelversorgung angewandt: Dabei ging es um eine Patientin, bei der 2002 im Darmbereich ein metastasierendes Karzinom entfernt worden war und die Chemotherapie mit dem zugelassenen Arzneiwirkstoff „5-U“ zu schweren Nebenwirkungen führte, so dass die Therapie abgebrochen werden musste. Daraufhin erhielt die Patientin ein aus Kanada beschafftes chemotherapeutisches Fertigarzneimittel (Tomudex®), das in Deutschland nicht zugelassen ist. Da die Behandlung der mit großer Todesgefahr verbundenen Krebserkrankung mit diesem Medikament eine nicht ganz fern liegende Aussicht auf eine positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf bot, wurde die Krankenkasse vom BSG unter Hinweis auf obigen Beschluss des BVerfG zur Übernahme der Kosten verurteilt. (BSG, Urt. v. 04.04.2006 – B 1 KR 7/05 R)
Fazit: Bislang hatte das BSG für die Zulässigkeit des Off-Label-Use verlangt, dass gesicherte medizinstatistische Daten über die Wirksamkeit des Arzneimittels bei der Behandlung der jeweiligen Erkrankung vorliegen müssen, die „eine Zulassungserweiterung durch die Arzneimittelbehörde erwarten lassen“. Nach der Rechtsprechung des BVerfG, die das BSG jetzt übernommen hat, genügt nunmehr auch im Bereich der Arzneimittelversorgung eine niedrigere Evidenzstufe, um die Wirksamkeit des Medikaments für den konkreten Off-Label-Use nachzuweisen: Bei einer lebensbedrohenden Erkrankung muss bei der Anwendung des Medikaments eine nicht ganz fern liegende Aussicht wenigstens auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf bestehen. Ein Konsens der einschlägigen Fachkreise aufgrund entsprechender Studien oder veröffentlichter Forschungsergebnisse wird nicht mehr gefordert. Vielmehr kann jetzt auch ein Wirksamkeitsnachweis durch ärztliche Erfahrung genügen, sofern das positive Votum für den Off-Label-Use auf besonders ausgewiesener ärztlicher Fachkunde beruht.
Praxistipp: Letzteres Kriterium hat das Sozialgericht Frankfurt/M. unlängst als erfüllt angesehen, als eine Patientin die Leistungspflicht ihrer Krankenkasse zur Interferon-Therapie einer beidseitigen Uveitis (Entzündung der mittleren Augenhaut) mit drohender Erblindung einklagte und die Wirksamkeit dieser Therapie durch Stellungnahmen der behandelnden Ärzte einer Universitäts-Augenklinik belegte. Diese Ärzte hatten bereits bei acht Patienten positive Erfahrungen mit der Interferon-Therapie gewonnen, nachdem die herkömmlichen Therapieformen erfolglos geblieben waren. Bemerkenswert an der Entscheidung des SG Frankfurt ist überdies, dass die Krankenkasse zur Leistung verurteilt wurde, obwohl die Erkrankung der Patientin nicht lebensbedrohlich war, sondern „nur“ zu einem massiven körperlichen Funktionsverlust (beidseitige Erblindung) führte. Damit dehnte das SG Frankfurt die Leistungspflicht der Krankenkassen über den vom BVerfG aufgestellten und vom BSG konkretisierten Anwendungsbereich des Off-Label-Use bei lebensbedrohlichen Erkrankungen aus und bejahte den Off-Label-Use auch bei solchen Krankheiten, die bei weiterem Fortschreiten zu gravierenden Folgen führen. Der Beschluss des SG Frankfurt ist noch nicht rechtskräftig. (SG Frankfurt/M., Beschl. 22.08.2006 – S 21 KR 444/06 ER)
Quelle: RA Olaf Walter, WIENKE & BECKER – KÖLN,
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